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Die Reise . . .

Interview mit Renke Korn zu seinem Stück “Die Reise des Engin Özkartal von Nevsehir nach Herne und zurück”

 

Sie sind einer der wenigen Autoren in der Bundesrepublik, die Arbeitswelt auf die Bühne und ins Fernsehen gebracht haben. Woher rührt Ihre Vorliebe für diesen Themenkreis?

Das ist keine Vorliebe, sondern für mich gewissermaßen selbstverständlich. Ich bin gar nicht fixiert darauf, Arbeitswelt darzustellen. Aber in dem Maße, wie dieser Bereich für die Existenz des Menschen bestimmend ist, in dem Maße kommt er auch in meine Stücke hinein. Der Mensch lebt ja nicht nur in der Freizeit. Die Art seiner Arbeit bestimmt seine Stellung in der Gesellschaft. Dadurch wird der Umkreis seiner Erfahrungen und Wertungen abgesteckt. Die Belastungen, denen er am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, das Verhältnis zu den Kollegen und Vorgesetzten, das Bewußtsein, minderwertige oder hochqualifizierte Arbeit zu leisten, die Lust oder Unlust an der Arbeit, das alles wirkt fort bis in die Privatsphäre hinein. Und diesen Zusammenhang zwischen Art der Arbeit, gesellschaftlicher Position, Klassenzugehörigkeit, beruflichem und privatem Verhalten, den muß man zeigen, wenn man realistisch schreiben will. Dieser Zusammenhang ist auch von den realistischen Schriftstellern immer gesehen worden. Der “Marquis von Keith” etwa ist für mich durchaus ein Stück über Arbeitswelt, über bürgerliche Arbeitswelt allerdings. Man könnte Shakespeares Königsdramen ebenfalls als Stücke über Arbeitswelt bezeichnen: Kriegführen und Erweiterung des Machtbereichs, das war die Arbeit des Adels. Die Schriftsteller haben in der Mehrheit stets die Probleme der jeweils herrschenden Klasse reflektiert, also auch die Probleme der Arbeitswelt dieser Klassen.  Je entscheidender mit der zunehmenden Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche die Mehrheit der Bevölkerung - Arbeiter und Angestellte - für alle politischen. wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen werden wird, desto intensiver werden sich auch die Schriftsteller den Problemen dieser Bevölkerungsmehrheit zuwenden.

Ihr Stück "Die Reise des Engin Özkartal von Nevsehir nach Herne und zurück” ist ein Stück über einen türkischen Gastarbeiter. Ist es für Gastarbeiter geschrieben?

Es ist für die geschrieben, die das Gastarbeiter-Problem berührt, also nicht nur für Gastarbeiter. Da es in deutscher Sprache verfaßt ist, zielt es natürlich in erster Linie auf ein deutsches Publikum. Aber wenn es in die jeweiligen Gastarbeitersprachen übersetzt würde, könnte es, meine ich, durchaus auch vor Gastarbeitern gespielt werden.

In Ihrem Stück werden die Stationen dargestellt, die der Gastarbeiter Engin Özkartal während seines Aufenthalts in Deutschland durchläuft. Was bedeuten diese Stationen für ihn, was lernt er daraus?

Der Titel des Stücks spielt ein wenig auf die Bildungsreisen an, die Bürgersöhne in der Vergangenheit zum Beispiel nach Italien machten, um an den Stätten klassischer Kultur ihre Geistesregungen und Seelenempfindungen zu verfeinern. Auch Engin Özkartal macht eine Art Bildungsreise, aber gänzlich anderer Natur. Er reist nicht freiwillig, sondern die Not zwingt ihn. Er wählt nicht die Stationen, sondern er wird von einer zur anderen getrieben. Aber die Situationen, die er erlebt, machen ihm allmählich deutlich, an welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mechanismen er ausgeliefert ist. Er erlebt, daß er von den deutschen Arbeitern als Lohndrücker angesehen wird, und begreift es erst nicht. Erst später durchschaut er, worin die Vorbehalte deutscher Arbeiter gegenüber Gastarbeitern begündet sind, nämlich in der Unsicherheit, in der das marktwirtschaftliche, auf Konkurrenz aufgebaute System dieArbeiter hält. Er muß eine Antwort finden auf die Frage, die die deutschen Arbeiter bewegt: Was ist, wenn es einen Konjunkturabschwung gibt, wer bekommt dann Arbeit, die deutschen Arbeiter oder die ausländischen? – Engin Özkartal wird ein Opfer der Rezession, er ist überhaupt stets Opfer, er handelt nicht, mit ihm wird gehandelt, und erst als er die Mechanismen durchschaut, die das Geschehen bedingen, dem er ausgeliefert ist, erst dann ist er in der Lage und bereit, zu handeln und gemeinsam mit den anderen Betroffenen die Mechanismen zu ändern.

Sie kennen die Behauptung, daß den Arbeiter die Darstellung seiner Arbeitswelt auf der Bühne gar nicht interessiere. Wie stellen Sie sich dazu?

Ich halte das für Unsinn. Dann könnte man auch gleich behaupten, jede Darstellung von Wirklichkeit sei uninteressant und nur Literatur, die in den Traum fliehe, werde akzeptiert. Selbstverständlich sind Stoffe aus der Arbeitsweit nicht von sich aus für den Arbeiter interessant. Auch hier ist die Form entscheidend, die ästhetische Vermittlung. Wenn dem Arbeiter auf der Bühne spannungslos und ohne sinnlichen Reiz nur der gleiche Wust serviert wird, den er tagtäglich in der Fabrik erlebt, und nichts weiter, wird er sich zweifellos schnell langweilen. Das Stück darf sich nicht darauf beschränken, die Oberfläche der Arbeitswelt zu zeigen, es muß sie auch interpretieren und auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen hin durchsichtig machen. Die Produktionsverhältnisse müssen als geschichtlich bedingt und als veränderbar dargestellt werden, denn nur dann kann das Stück befreiend wirken.

 

(Das Gespräch mit Renke Korn führte Klaus Pierwoß. Es wurde im Programmheft der Uraufführung des Stückes am Landestheater Tübingen veröffentlicht.)

 

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