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Zur Dramaturgie

Renke Korn

ZUR DRAMATURGIE UND THEMATIK MEINES STÜCKES “DIE ÜBERLEBENDEN”

Ich habe das Stück so geschrieben, wie es sich mir aufdrängte, ohne mich viel darum zu kümmern, welchen Platz das fertige Produkt wohl innerhalb der heute gängigen Dramen-Typologie einnehmen würde.  Nichtsdestoweniger waren natürlich vor Beginn des Schreibens in dieser Hinsicht mehr oder minder bewußte Entscheidungen gefallen, die sich aus meiner Absicht ergaben, mit meinem Stück den alten Versuch der “Konfrontation des Zuschauers mit sich selbst” zu wiederholen: ich wollte weder ein Dokumentarspiel noch eine Parabel schreiben. Das eine nicht, weil sich das Dokumentarspiel, nimmt es seinen Namen ernst, auf dokumentierbare Stoffbereiche beschränken muß, die nur einen Bruchteil der darstellbaren Wirklichkeit ausmachen, und weil die Authentizität, die das Dokumentarspiel, wenn es sich als solches ausweist, zu haben vorgibt, wohl die miserabelste ist, die sich im Kunstbereich denken läßt; das andere nicht, weil mir scheint, daß die Parabel dem Akuten und Bedrängenden der Wirklichkeit ausweicht und den Zuschauer in einer Distanz beläßt, die die Irritation seines Selbstverständnisses verhindert. Ich frage mich, ob nicht z. B. Frischs “Biedermann und die Brandstifter” - um ein meinem Stück thematisch verwandtes Werk zu nennen, die gemeinte Wirklichkeit mehr verstellt als durchleuchtet, indem es diese Wirklichkeit in die Abstraktheit eines Modells transportiert, das Dummheit, Feigheit, Angst und Mord zu bloßen Thesen verwandelt, die sich viel zu leicht nachsprechen lassen.

Das Stück “Die Überlebenden” hat bundesrepublikanische (Unter-) Bewußtseinsvorgänge zum Gegenstand.  Als Symptome der gemeinten Vorgänge sehe ich die Reaktion von Presse und Bevölkerung auf die Prozesse, in denen die Verbrechen der Nazi-Zeit abgeurteilt werden, diese eigenartige Identifizierung mit den Tätern zu dem Zwecke, sich nach ihrer Verurteilung exkulpiert zu fühlen, den fast neurotischen Eifer, mit dem nach dem Kriege die scheinbar unpolitische Wirtschaftswunder- und Konsumenten-Ideologie kultiviert wurde, die vergebliche Verdrängung der Vergangenheit, und sehe ich schließlich, daß die Anfänge einer reflektierten Moralisierung des politischen, gesellschaftlichen und privaten Lebens nach der Katharsis des Zusammenbruchs wieder überwuchert werden von der alten Bewußtlosigkeit, die nur auf das Nächstliegende reagiert und letztlich nur eine Maxime hat, die des Überlebens.

Diese Formulierungen sind Abstraktionen. Bei der Gestaltung der Figuren meines Stücks ging es mir um ihre Konkretheit und zugleich um ihre exemplarische Bedeutung.  Ihre konkrete Psychologie ist repräsentativ, das scheinbar Private nicht privat, insofern es Modifikation von etwas Durchschnittlichem ist und Reflex allgemeiner gesellschaftlicher Prozesse.

Das bedeutet, daß ich hinsichtlich der Zuschauer auf Betroffenheit spekuliere, auf Identifikation als Auslöser eines Reflexionsprozesses, der zur Überwindung der eigenen Wirklichkeit führt.

 

Dieser Text wurde zum ersten Male im Programmheft zur Uraufführung des Stückes “Die Überlebenden” am Deutschen Theater in Göttingen 1967 veröffentlicht.

 

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