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Zur Funktion des Theaters

Renke Korn

ZUR FUNKTION DES THEATERS

Die Diskussion darüber, was das Theater sein soll - Amüsierbetrieb oder Stätte der Verinnerlichung, moralische Anstalt, Institution zur Aufklärung der Gesellschaft oder gar Ausgangspunkt politischer Aktion - diese Diskussion dauert an, und sobald man ein Stück geschrieben hat, wird man angehalten, seinen Standpunkt kundzutun, obwohl ein Autor lieber darüber nachdenkt, wie er das nächste Stück noch besser machen könnte als das erste, und obwohl besagtes Problem eigentlich mehr ein Intendanten- und Kritikerproblem ist und die Entscheidung letztlich vom Publikum getroffen wird. Der Autor schreibt höchstwahrscheinlich doch so, wie er es am besten kann, und sein Diskussionsbeitrag wird mit ziemlicher Sicherheit auf eine Selbstrechtfertigung hinauslaufen.  So erklärt der Komödienautor Dürrenmatt, “uns komme nur noch die Komödie bei”, und so meint, wie ich gerade heute in der Zeitung lese, Max Christian Feiler, ebenfalls Komödienautor, den es “nie reizt, ein ernstes Stück zu schreiben”, daß “die Dichter und Schriftsteller, die sich zutrauen, zur Bewältigung der Vergangenheit oder Gegenwart oder Zukunft etwas beisteuern zu können, ungewöhnlich jung sein oder den Geschichtsunterricht verschlafen haben müssen.”

Hier scheint mir die Selbstrechtfertigung etwas überdreht - wenn auch die Zahl derer, die mit Herrn Feiler übereinstimmen und verkünden, noch kein Theaterstück habe je einen Menschen auf die Dauer verändert, nicht gerade klein ist. Nun, solange es noch keine gesicherte Psychologie des Theaterbesuchers gibt, ist hier wenig zu beweisen, umso mehr zu glauben.  Ich jedenfalls bin einigermaßen auf die Überzeugung angewiesen, daß ein Theaterstück sehr wohl Menschen zu verändern vermag, insofern es informieren, aufklären, erschüttern, begeistern, Bewußtsein bilden kann.  Zu erwarten, daß es sie f u n d a m e n t a 1  ändert, das allerdings wäre Illusion; das bringen ja nicht einmal Weltkriege fertig,

Die Frage ist, ob sich aus der Überzeugung, daß das Theater aufklären  k a n n , die Forderung ergibt, daß es dann auch aufklären  m u ß . Hier kommt Moral ins Spiel.  Es gibt Leute, die so unerbittlich sind, daß sie denen, die die Bühne nicht als Instrument politischer Agitation benutzen, vorwerfen, bewußt oder unbewußt einem gesellschaftspolitischen Konservativismus Vorschub zu leisten, und dem, der von Aufklärung spricht, vorhalten, das sei ein leeres Wort, mit dem spätbürgerliche Skeptizisten und Subjektivisten ihre Haltlosigkeit zu kaschieren trachteten. Nun, ich bin der Meinung, daß der Begriff Aufklärung durchaus handfest ist.  Als Programm beinhaltet er zwar in der Tat a priori keine Ideologie, keine Entscheidungen für oder gegen Salazar, Ulbricht oder Ho chi minh, aber doch wohl die Absicht, diese Entscheidungen, wenn nicht andere wichtiger sind, durch Überzeugen herbeizuführen. Seine gewisse Abstraktheit ist positiv zu bewerten, denn sie bedeutet ja nicht Verzicht auf Stellungnahme, auch nicht Verzicht auf Ideologie, sondern die Prädominanz der Haltung der Nachdenklichkeit v o r  aller ideologischen Fixierung.

D a ß  das Theater überhaupt aufklärerisch sein soll und zwar vornehmlich auf sozialem und politischem Gebiet als dem Gebiet, wo wir die Verhältnisse ändern können, diese Forderung ist nicht zwingend. Sie entsteht lediglich aus dem Gefühl, daß die politischen und sozialen Umstände, unter denen wir jetzt leben, so prekär sind, daß wir ihnen nicht ausweichen sollten - etwa unter Berufung darauf, daß es am Theater um Kunst gehe und um nichts sonst.  Im übrigen ist es selbstverständlich und eine Binsenwahrheit, daß es mit löblichen Absichten nicht getan ist. Engagement ersetzt nicht fehlende Qualität. Die Fragen bleiben, wie ein Stück, wie eine Aufführung gestaltet sein muß, um die Wirklichkeit und den Zuschauer zu erreichen, um seine Emotionalität und zugleich seine Kritikfähigkeit zu mobilisieren; wie die Transposition der Wirklichkeit in die spezifische Gesetzmäßigkeit der Bühne zu bewerkstelligen ist; kurzum: wie das, was gezeigt werden soll, optimal über die Rampe kommt.

 

Dieser Text wurde zum ersten Male im Programmheft zur Uraufführung des Stückes “Die Überlebenden” am Deutschen Theater Göttingen 1967 veröffentlicht.

 

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