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Der Architekt - Kommentar

Zur Entstehung von “Der Architekt der Sonnenstadt”

“Vielleicht hielt er sich für einen neuen Corbusier, war aber gar keiner." So wird über Hegarth nach seinem Tode geurteilt. Die Umstände seines Todes sind eigenartig, es wird Selbstmord vermutet. War er ein Psychopath? Nur der Erfolg gibt recht. Wer Veränderungen will und scheitert, ist ein Spinner.

BArchitekt302in ich selbst das auch, wenn ich zwar Hegarth scheitern lasse, aber seinen Freund und Partner Krechel mit den gleichen Ideen, doch mit etwas anderen Durchsetzungsmethoden relativ erfolgreich sein lasse, also glaube, daß Verbesserungen erreichbar sind, wenn auch nur mit dem Tempo einer Schnecke?  Bin ich rückwärtsgewandt, nostalgisch, wenn ich neuentstandene Trabantenstädte wie das Märkische Viertel in Berlin verabscheue, das “vergammelte” Kreuzberg aber liebe und aus solchen Gefühlen ein Fernsehspiel entstehen lasse?

Seit 1964 wohne ich in Berlin-Kreuzberg in einem Haus von 1897, direkt am Landwehrkanal.  Sehr seßhaft, so seßhaft, daß ich manchmal denke: für einen Schriftsteller, der die Welt in vielen Bereichen und aus vielen Perspektiven kennen soll, eigentlich zu seßhaft.  Die Vorteile sind nicht zu übersehen: im zweiten Stock die Familienwohnung, im vierten meine Arbeitsräume (die notwendige zeitweilige Abkapselung also garantiert); das Haus an einer Sackgasse, kaum Verkehr, also Ruhe; gegenüber, auf der anderen Seite des Kanals, das Freibad mit seinen Rasenflächen und Bäumen, also fast ein Ausblick wie auf einen Park; mit der Zeit Bekanntschaft mit nahezu allen Hausbewohnern - die einen schenken meiner Tochter Spielzeug, mit dem ihre Kinder nichts mehr anzufangen wissen, mit anderen liege ich im Sommer auf der Straße unterm Auto,  Georg erneuert die Bremsbeläge an seinem R4, ich die Achsschenkel an meinem VW, und wir tauschen Werkzeuge aus - also Nachbarschaft; und Kreuzberg überhaupt: Hier sind noch alle Lebensbereiche beieinander: die Wohnhäuser und die Fabriken in den Hinterhöfen, die kleinen Läden und die Eckkneipen, Modernes und Altes, Heruntergekommenes und Aufstrebendes, viele Hoffnungen, viel Trostloses, Heiles, Kaputtes, der 16jährige arbeitslose Türkenjunge mit dem Kassettenrecorder, der Arbeiter mit dem Opel Rekord und dem selbst eingebauten Bad, die Studentin mit dem 2 CV und der Toilette auf dem Treppenabsatz  . . .

Noch: Meine Lebensmittel kaufte ich früher in einem Souterrainladen eine Straße weiter, in unserem Haus gab es ein Fischgeschäft. Wenn man dort einkaufte, unterhielt man sich ein wenig mit den Besitzern. Beide Läden existieren nicht mehr. Wir fahren inzwischen auch mit dem Auto zum Einkaufen ins Kaufhaus oder zum Supermarkt.  Die Verkäufer und die Kunden dort, sie kennen uns nicht, wir kennen sie nicht. Ein Freund wohnte früher in der Wassertorstraße, wir gingen oft zusammen in eine Kneipe am Ende der Straße, wo noch an manchen Abenden ein Stehgeiger spielte. Auch das ist vorbei.  Die Wassertorstraße wurde kahlschlagsaniert, neue Häuser sind entstanden, Menschensilos in Fertigbauweise, öde, kalt, seriell.  Auch eine Kneipe gibt es wieder, fast an der gleichen Stelle, sauber, hygienisch, mit einer Musikbox.

Ich sah diese Veränderungen, und sie schienen mir lange Zeit so zwangsläufig und unvermeidlich, daß ich mir nicht einmal das Gefühl von Trauer gestatten wollte.  Aber ich lernte dann - das ist eine andere Geschichte - solche Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sie zu Fragen werden zu lassen, zu Fragen nach Ursprung und Ziel von Veränderungen, nach ihren Initiatoren und Nutznießern, nach den Möglichkeiten, sie aufzuhalten, zu beeinflussen, zu lenken. Vor ein paar Jahren sendete der Hessische Rundfunk mein Hörspiel "Das Attentat auf das Pferd des Brasilianers Joao Candia Bertoza” (ein junger Mann erschießt während eines Reit- und Springturniers in Münster das Pferd eines brasilianischen Reiters, Sohn eines Großgrundbesitzers und Neffe eines der Offiziere, die 1964 den letzten rechtmäßig gewählten Präsidenten Brasiliens, Joao Goulart, stürzten) - der Versuch, aufmerksam zu machen auf Unterdrückung und Ausbeutung in der Dritten Welt und das Mitspielen bundesrepublikanischer Firmen. Eine der Reaktionen, die ich bekam, war der Brief eines Architekten aus Frankfurt-Eschborn, der mein Hörspiel lobte, mir aber zugleich - milde - vorwarf, hier in der Bundesrepublik, nicht in Brasilien, in unseren durch Kapitalinteressen und Dummheit zu unmenschlichen Wüsteneien gewordenen Städten lägen die Probleme, denen ich mich als Schriftsteller zuwenden sollte.  Ich schrieb zurück, fühlte mich mißverstanden, wehrte ab und antwortete nicht mehr, als er mir Dokumente schickte, die seinen eigenen Kampf - als Architekt und in einer Bürgerinitiative - gegen die “Unwirtlichkeit unserer Städte” spiegelten.  Aber etwas blieb hängen.  Und wuchs, wahrscheinlich jedes Mal ein Stück, wenn ich in Kreuzberg eine Sprengung beobachtete, ein Abrißgelände passierte, in eine der Neubausiedlungen unserer Stadt geriet, einen neuen Wohnklotz entstehen sah.

Zwei Jahre später besuchte ich ihn in Eschborn und besprach mit ihm meinen ersten Entwurf zu einem Fernsehspiel mit dem Titel “Der Architekt der Sonnenstadt”.           Renke Korn

(Dieser Kommentar wurde veröffentlicht im Programmheft “Das Fernsehspiel im ZDF” Nr. 24 - 1979)

 

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